Endlich sind wir in dem Zug, der uns auf dem schnellsten Weg zu unserer Dienststelle bringen soll. Nach einigem Umsteigen. Wir sind Berufs-Pendler und müssen einige hundert Kilometer zum Dienstort zurücklegen. Und die Zeit läuft. Bereits jetzt sind wir schon fast zwei Stunden unterwegs, rechnet man diverse Fußmärsche und U-Bahnfahrten zur Zugfahrt hinzu. In dem Gebiet, in dem wir unterwegs sind, herrscht zurzeit Ausnahmezustand. Zahlreiche Bahnhöfe und Brücken werden saniert. Zig Baustellen pflastern die gesamte Strecke. Das Unternehmen "Bahn" steht Kopf ...
Aufatmend haben wir den Anschlusszug erreicht. Kaum haben wir uns Plätze organisiert, läßt uns die Durchsage des Personals aufhorchen. Wir trauen unseren Ohren nicht und wechseln stumme Blicke. Der Zug fährt einfach durch ! Ohne Halt an unserem Zielbahnhof ! (Darf er das so einfach ? ...) Mein Kollege B. erleichtert sich verbal: "Sonne Schei..." , guckt auf seine Armbanduhr und zückt zeitgleich sein Handy. Wir sind immer bemüht, auf dem schnellsten Weg anzukommen, weil Umwege und Verzögerungen unterwegs von unserer Dienstzeit abgezogen werden. Eifrig späht er nach möglichen Verbindungen, die uns endlich an unser Ziel bringen sollen. Ich habe - mal wieder - kein Netz ... zum Glück bin ich heute nicht allein unterwegs. Zwischendurch seufzt der Kollege und murmelt vor sich hin: "Leck mich doch am ..." Trotz des Ernstes der Situation muss ich heftig grinsen. Um nicht auszuplatzen, schaue ich mir unsere "Wegbegleiter", die Wolkenformationen an. "Also ... wir müssen ... dahin". B. zeigt auf den roten Zug, an dem wir just vorbeigerollt sind. Er wartet bereits am Bahnsteig. "Den müssen wir erreichen" "... koste was es wolle", ergänze ich prompt und fange den grinsenden Blick des Kollegen auf. Zum Glück brauchen wir nur den Bahnsteig zurücklaufen und nicht den ganzen Bahnhof durchqueren.
In Lauerstellung, halb erhoben von unseren Sitzen, warten wir sehnsüchtig auf das Halte-Signal. Rucksack und Tasche habe ich bereits übergestülpt, während der Kollege noch mit dem langen Lederriemen seiner antiken Aktentasche kämpft. Endlich. Der Zug hält. Im Laufschritt wirft er sich die Tasche über und zieht das Tempo an. Alle Achtung, hätte ich dem älteren Herrn - Ende Fünfzig plus plus ... gar nicht zugetraut. Inmitten einer heftigen Windboe zieht er sich die Leinenkappe tiefer in die Stirn. Wir sind fast da. Der Kollege gibt Vollgas, seine silbrigen, fast schulterlangen Wellen wallen im Wind. Seine festen Turnschuhe machen mit. Die knallig gelben Schnürsenkel halten. Dankbar schaue ich auf meine modischen Sportschuhe mit der Plateausohle. Auch sie erlauben mir einen Sprint. Mit großen Schritten hetze ich hinter dem Kollegen her, um den Anschluß nicht zu verlieren. "Alle Achtung, Nina, das ganze Amt ist in Bewegung", trotz der Anstrengung bin ich amüsiert und muss einfach nur lachen. Laufen und dabei lachen ist gar nicht so einfach. Der Kollege dreht nochmals auf. Ich auch. Schwungvoll, mit einem Riesenschritt, hechtet er voran ins Abteil. Nur noch wenige Zentimeter trennen mich von der Tür, die gerade zu meinem großen Entsetzen schließen will.
Todesmutig wirft sich der Kollege in die Tür und riskiert ein bedrohliches Zusammenquetschen und damit sein Leben. Wenigstens konnte er meines retten. Stöhnend lassen wir uns auf die erstbesten Sitze fallen. Das nennt sich wohl Frühsport ... Laut höre ich mein Herz im Hals pochen. Ich fühle leichte Ohnmacht in mir aufsteigen. Bloß nicht. Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Massen an Anträgen und Formularen erwarten mich. Dringend. Der Kollege wird zunehmend blasser und schnaubt verdächtig. Immerhin atmet er noch.
Der Rest der Fahrt verläuft komplikationslos - und stumm -. Unsere vollste Konzentration gilt unseren Dienstgeschäften und den damit verbundenen Deadllines ...
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