Natürlich gibt es auch Erfahrungen, auf die man gern verzichten könnte. Diese werden einem quasi `aufgedrängt´, vor allem, wenn man mit offenen Augen (und Ohren!!!) durch die Welt spaziert.
"Blödsinn, hör´ doch auf!" schallte eine laute Stimme durch die Regalreihen. Ruckartig hob ich meinen Kopf. Welch´ liebenswürdige Kommunikation. Kurzerhand gab ich meinem Wägelchen einen Schubs und kurvte in die andere Richtung, dem Geräusch hinterher. Mit großen Schritten. Nicht auszudenken, wenn ich Aufregendes verpasste ...
Ein ältliches Paar (als ob ich es geahnt hätte) kam mir aus einer Reihe entgegen. Es schien uneinig wegen des Einkaufs. Selbstbewusst und kerzengerade schob er den Wagen, während sie leicht gebeugt und duldsam nebenher lief. Die Miene des Mannes in den Siebzigern lehrte mich das Fürchten. Als bräche jeden Moment eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes aus. Seine herab gezogenen Mundwinkel - sie verfehlten seine Schultern nur knapp ... Von Freundlichkeit meilenweit entfernt. Seine Partnerin sprach sanft auf ihn ein. Ich folgte einer neuen Lieblingsbeschäftigung beim wöchentlichen Großeinkauf. Das Einkaufen war jedes Mal eine spannende Angelegenheit. Als neues, zusätzliches Betätigungsfeld betrieb ich (nebenbei) Verhaltensstudien. Dabei bin ich überhaupt nicht neugierig! Ich nenne es natürlichen Wissensdrang, schließlich weiß Frau gern, was in den Mitmenschen, sprich in der näheren Umgebung vorgeht ... Es war immer das Gleiche: verschiedenste Läden, gleiche Situationen. Merkwürdigerweise wurden meistens die Frauen von ihren besseren Hälften angeblafft, den umgekehrten Fall habe ich selten bis nie erlebt. Die meisten Herren, hm eher Männer, vermittelten den Eindruck, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen und sie wurden zum Schafott geführt ...
Die ältere Frau fragte ihren Mann sehr freundlich, ob er morgen zum Frühstück ein Ei möchte? "Ich nehme dann eine größere Packung und kann noch einen Kuchen backen und übermorgen könnten wir Spinat mit Eiern essen." Harsch winkte er ab: "Scheiß doch was auf Eier" und fuhr entschlossen weiter. Ob diese Aussage eine unüberbrückbare Kluft ins weitere (gemeinsame?) Leben des Paares riss, entzog sich meiner Kenntnis. Leider.
Als ich meinen Wagen für die Heimfahrt startete, kam mir ein spontaner Gedanke: "Scheiß doch was auf widerwärtige, alte Knaben ..." (wobei ich keineswegs von einem solchen Prachtburschen auf die gesamte Männerwelt schließen möchte!) Jedenfalls hatte ich trotz der widrigen Situation eine heitere Rückfahrt.
Ich bin immer bemüht, Situationen, egal wann, wo und mit wem von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Vielleicht hatte der ältere Mann Probleme, von denen ich (und seine Frau!) nichts ahnten. Nicht alle Männer outen sich ihrer Partnerin gegenüber, lieber schlucken sie und leiden unendlich, denn `ihr Außen-Auftritt´ könnte erheblich wanken ... das wäre Drama pur! Hinlänglich ist ja auch bekannt, dass eine Frau überhaupt keinerlei Verständnis für die Unbilden des Gatten hat! Sie verachtet ihn geradezu wegen seines `outings´ und verläßt ihn postwendend ... !!!
Von einem Ausnahme-Exemplar erfuhr ich, als ich einen längst überfälligen Friseurtermin bei der Coiffeurin meines Vertrauens wahr nahm. Wir entdeckten im Laufe meiner Besuche zahlreiche Gemeinsamkeiten. Dabei entstand eine nette Bekanntschaft. "Du glaubst nicht, was ich neulich erlebt habe", grinste sie, während sie Strähnchen für Strähnchen für meinen neuen Cut abteilte. "Ich habe die Beziehung meines Ex gerettet! Bin ich gut oder bin ich gut?" lachte sie in den Spiegel. "Waaas?" "Mein Ex kam mal wieder zum Beschneiden" Sie bemerkte mein Erstaunen: "Kunde ist Kunde, damit kann ich umgehen. Er machte einen total verzweifelten Eindruck und fragte: "Ich weiß nicht mehr weiter." Nach langer Zeit starteten die drei in einen gemeinsamen Urlaub. Mike, ihr Mann, überraschte sie bereits am ersten Urlaubstag mit seiner Ankündigung, sofort nach der Rückkehr auszuziehen, um mit seiner Jugendliebe in ein neues Leben zu starten. Simone und ihr Sohn waren wie vom Blitz getroffen. Nach einiger Zeit hatte sie sich einigermaßen gefangen und fand einen Rettungsanker in ihrer Selbständigkeit. Ihr Sohn lebte weiterhin bei ihr. Mike war zu Cora und ihren drei Mädels gezogen. Die Mädels hatten zwei Väter ... Sie lebten in dem Haus, das Cora mit ihrer Schwester Carina geerbt hatte. Auch diese hatte Nachwuchs, eine Tochter und einen Sohn, geringfügig älter als Coras Kinder. So ein Zusammenleben in einem Haus barg jede Menge Zündstoff, obwohl beide Familien eine eigene Wohnung hatten. Steffen besuchte seinen Vater eher selten. Mit den Mädels konnte er wenig anfangen, sie waren ihm zu zickig. Krampfhaft initiierte Cora Spieleabende, plante Events und gemeinsame Ausflüge, um die Patchworkfamilie um jeden Preis zu vereinen. "Also von Patchwürg´ halte ich gar nichts" "Wie? Was hast Du gesagt?" "Patchwürg´" und fasste mir an die Gurgel. "Aah", Simone lachte. Sie hatte verstanden.
"Kannst Du mir `nen Tipp oder Rat geben? Er war ziemlich `durch den Wind´ und enorm gealtert. Beim seinem Anblick habe ich mich richtig erschreckt." Sie machte ein bekümmertes Gesicht. Intuitiv wich ich ihrer Schere aus. "Normalerweise sollte er doch taufrisch wirken, frisch verliebt müsste er doch voller Tatendrang sein" warf ich ein. "Früher immer schlank, war er jetzt richtig aufgebläht. Nicht nur seine Haare waren ergraut, auch im Gesicht war er ganz grau und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Kaum wiederzuerkennen. Ich - Dir helfen?" fragte ich also. Und weißt Du, wie ich ihm helfen sollte?" "Oh, ich bin gespannt", meinte ich "sprich." Zum Glück ließ sie die Schere sinken ... "Er scheint Probleme in seiner jetzigen Beziehung zu haben, ob ich vermitteln könne, das weiß ich von Steffen." (Steffen ist ihr gemeinsamer Sohn) "Wie bitte? Du als seine `Ex´ sollst ihm bei den Problemen mit seiner jetzigen Flamme helfen? Und hast Du?" "Nein, ich habe mich so gut es ging durch das heikle Thema laviert. Bin so froh, dass ich die Sache endlich überwunden habe. Da muss er jetzt allein durch!"
Das überstieg bei weitem meine Vorstellungskraft: Er verläßt in Nullkommanichts seine Familie ganz zu schweigen von Gemeinheiten und Lügen in der Trennungsphase und und und bittet seine Exfrau, nachdem er ihr so weh getan hat, noch um ihre Hilfe mit seiner Neuen ... Fassungslos sahen wir uns an. Minuten des Schweigens vergingen. Ein leiser Schauer kroch mir über den Rücken, mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ich erschauerte vor Mitleid mit dem armen, vom Schicksal gebeutelten Mann ...
PS.: Mein neuer cut war nicht in Gefahr! Mit perfektem Neuschnitt konnte ich mich wieder in der Öffentlichkeit sehen lassen ...
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