Durch starkes Verkehrsaufkommen war ich spät dran. Das passiert mir selten, da ich bei festen Terminen immer ein großzügiges Zeitfenster einplane. Meinen üblichen Weg in die City (ich wohne in einem Vorort, etliche Kilometer vom Zentrum entfernt) konnte ich nicht fahren und musste zahllose Umfahrungen in Kauf nehmen. Die gesamte Stadt plus Umgebung war eine einzige Baustelle. Auch unangekündigte Baustellen schienen wie Pilze aus dem Boden zu sprießen. Mir saß die Zeit im Nacken, denn mein Termin rückte unaufhaltsam näher. Schnell peilte ich das nächstbeste Parkhaus an und hatte Glück. Ohne viel Sucherei fand ich einen Platz. Jetzt hieß es sputen. Ich raffte Tasche und Jacke und eilte mit großen Schritten dem Anzugträger hinterher. Dynamisch öffnete er die Tür zum Treppenhaus und durchquerte sie mit einem markanten Auftritt. In Erwartung der dargebotenen Klinke streckte ich meine Rechte erwartungsvoll aus. Mit einem lauten Knall flog die schwere Eisentür direkt vor meiner Nase zu. Automatisch zuckte ich zurück und brachte meine Hand in Sicherheit. Zu meinem unbändigen Glück konnte ich mir eine sofortige notärztliche Konsultation ersparen, weder hatte ich mir eine Prellung noch einen Bruch zugezogen. Nach kurzem Test gab´s Entwarnung. Meine Gliedmaßen waren noch voll funktionstüchtig. Ich kam mit erheblichem Schrecken davon, atmete tief durch und konnte meinen Termin abarbeiten. In diesem Fall bedeutete die Lässigkeit mit dem Umgang der Termine mancher öffentlicher Institutionen ... Glück für mich. Mein späteres Erscheinen war überhaupt nicht aufgefallen ...
Auf diese Hetze wollte ich mir eine kleine Cappuccino-Pause gönnen und steuerte ich die Süßwaren-Boutique mit angegliedertem Café in unserer Altstadt an. "Ich glaub´, ich sollte noch eine Beratungsstelle aufmachen", tönte es mir laut vom Eingang entgegen "eine mobile ..." Zielsicher steuerte ich den einzigen noch leeren Tisch in der Mitte an. Leider. Aber mein Kaffeedurst siegte. Eingekreist vom geballten Männer-Aufkommen an den Nebentischen, genoß ich meinen Cappuccino mit einem Keks und wurde unfreiwillig freiwillig 😉 Zeugin außerordentlicher Unterhaltung. Rechts von mir saßen zwei einzelne Männer, der eine, ca. um die 50, schwang gewaltige Reden, während sein Zuhörer, ein Hutzel-Männchen in den guten siebzigern, fast nur zuhörte. "Meine bescheuerte Ex-Frau hat ..." schallte es lautstark durch den kleinen Laden und ich verbrühte mich fast an meinem heißen Kaffee. Eine Woge der Ausgelassenheit drohte die Gruppe Männer am anderen Tisch zu überfluten. Es wurde sehr laut und die Worte des Redners gingen unter. Sehr zu meinem Leidwesen. Zu gern hätte ich erfahren, mit welchem Vergehen sich die Ex-Gattin schuldig gemacht hatte.
Während er in echter Kerle-Manier ein Bein locker angewinkelt und über den Oberschenkel des anderen geschwungen hatte, dozierte er mit ausladender Gestik. Seine Jeans ausgeleiert, der grau-schwarze Pullover ein verwaschenes, schlabbriges Gebilde im Norweger-Stil. Die imposanten Elche darauf ließen sich nur erahnen. Seine groben Schuhe hatten Schuhcreme ewig nicht mehr gesehen ... Die matten Flecken auf seiner Brille fielen richtig auf. In mir regte sich eine zarte Spur aufrichtigen Mitleids. Vermutlich litt er unter chronischem Zeitmangel, aber Dozieren kann man ja auch blind ... Ein armer Tropf! Er konnte sich kaum von seiner wichtigen Vortragsreihe lösen und seinen Kaffee genießen. Ein vermutlich äußerst vielbeschäftigter Mann. Dem Älteren blieb nur der Part des Zuhörers. Ab und zu nickte dieser zustimmend und räusperte ein paar Ahas und Ohs. Ich schätzte ihn als typischen Junggesellen ein (ich unterscheide zwischen Single-Männern und Junggesellen). Er trug weite beige, abgewetzte Cordhosen, dazu einen blassgelben Pullunder mit Zopfmuster (aus Frau Mamas Manufaktur?...) ein hell-kariertes Hemd darunter - sorgfältig auf den obersten Knopf geschlossen. Seine spärlichen aschblonden Haare hatte er mit Brillantine aalglatt über den gesamten Kopf nach hinten geklebt, währenddessen die dicke hellbraune Matte seines Gegenübers ... nun ja, Kamm oder Bürste? Gibt´s so was überhaupt noch?
"... wie üppig" hörte ich plötzlich aus der erheiterten Runde der anderen Seite. Fünf Männer des Mittelalters räkelten sich auf ihren Stühlen. Der Anorak des einen machte sich selbsständig und rutschte sacht über die Lehne, der Schal eines anderen wurde achtlos mit Füßen an die Seite gescharrt. Mann war mit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens beschäftigt. Den Worten konnte ich nur zustimmen. Das große Holz-Rondell, welches mit allerhand buntem Obst bestückt war, bildete den Mittelpunkt des kleinen Raumes und eine Art Abgrenzung zwischen Verkaufsraum und Café. Ein Wispern, ein Stichwort, leider konnte ich es nicht verstehen, weil die Verkäuferin mit lauter Stimme einer unschlüssigen älteren Dame die Vorzüge der verschiedenen Kaffeesorten erklärte. Unglücklicherweise zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die Männer konnten sich kaum noch halten. Aber was war nur so lustig daran? Lange brauchte ich nicht warten. "A wie Apfel", das Einzige, was ich verstehen konnte. Damit löste er lautes Gejohle aus. Leider konnte ich die anschließende Erklärung nicht verstehen, weil just einige KundInnen `störten´ und unbedingt etwas einkaufen mussten ... Aber seine Gestik war sonnenklar. Die Dekoration mit dem Obst war sicher nicht gemeint. Die Männer, alle im Mittelalter um die fünfzig, erinnerten mich an eine Meute ausgelassener Jugendlicher. "B wie Birne" fiel einer ein und heizte die Stimmung beträchtlich an. "Karlfrieds Gilla, man, die ist ausgestattet ..." Die anderen grölten lauthals und flegelten sich auf ihren Stühlen. Durch den enormen Geräuschpegel von beiden Seiten nahm ich nur Wortfetzen war. Ich saß quasi in der Schusslinie und reimte mir alles mühsam zusammen. Die Rede war von Karlfried und Gilla. Es schien sich um ein Paar zu handeln, das einem der Männer bekannt war. "Cup C oder D?" einer aus der Runde konnte sich vor Lachen nicht mehr halten und schlug sich vergnügt auf den Oberschenkel. "Du hast vergesssen, F wie Fallobst, plopp ..." Rasant ließ er seine halbgeöffneten Hände fallen und brachte die Truppe erneut in Wallung. Scheinbar gefiel er sich in seiner Rolle als Held.
Natürlich durfte das große Thema Weltpolitik nicht fehlen. Auch hierzu ließ sich der `Ex der Bescheuerten´ genauestens aus. Er lamentierte über die Gesellschaft im allgemeinen bis hin zum zwielichtigen Gebaren von Versicherungen und Banken. Heute Nachmittag wurde ich erstklassig aufgeklärt. Während er politische Entscheidungen in Frage stellte - guckte er mich immer an - erfolgheischend - und streute clevere Verbesserungsvorschläge ein. Wie ein Pfau, der Rad schlägt ... So ein Gehabe beeindruckte mich in keinster Weise. Solchen Typen verbreiten heiße Luft und hören sich gern reden. Einfach nur peinlich.
"Cup wie Pokal?" meldete sich eine leisere Stimme aus der `Herr´-lichen Runde zu Wort. Der Wortgewaltige beantwortete die schüchtern vorgebrachte Frage mit einem kumpelhaften Schlag auf dessen Schulter. "Mensch, weißt Du nicht? Ach ja, Du bist Junggeselle, merkt man!" Dieser verstummte sofort. Ausgelassen schwadronierte der Rest über die Anatomie Frau Gillas. Die Männer schienen Arbeitskollegen, schloß ich aus dem Zusammenhang der Phrasen und Wortfetzen. Sie rutschten ausgelassen auf ihre Stühlen hin und her. Der Redner brauchte nur ein Wort oder einen Gedanken fallen lassen, schon grölte die Meute los. Zugegeben, es war anstrengend, von beiden Seiten beschossen zu werden, aber auch sehr amüsant. Multitasking - für Frau kein Problem.
Inzwischen hatte ich genug gehört und wollte aufbrechen. Dabei kam mir ein Blitzeinfall. Ich zögerte, sollte ich oder sollte ich nicht? Meinen Nebenmann in seinem Bestreben auf eine mobile Beratungsstelle bestärken? Gute Beratungskräfte kann eine Gesellschaft nie zuviel haben ... Und da wir einen enormen Bedarf haben, weil es ja weit und breit keine Coaches für sämtliche Lebensbereiche und Beratungen gibt, geschweige denn genügend Literatur darüber, wäre seine Geschäftsidee eine Nische - eine Geheimwaffe!!! Einen Namen für eine Filiale hätte ich auch parat: Eine Beratungsstelle - für Dummschwätzer - ... Meine Idee habe ich dann doch für mich behalten. Der Mann wirkte schon arg gestresst ...
Es war zwar ungewöhnlich laut, aber ich hatte einen vergnügten Nachmittag. Beschwingt ging ich, Schaufenster bummelnd, in Richtung Parkplatz. Vor mir her lief ein älteres Paar. Ein älterer Knabe mit sperr weit geöffnetem Anorak von undefinierbarer bräunlicher Farbe und hielt die Hände (typische Geste vieler Männer (?)) auf dem Rücken verschränkt. Dabei sprach er auf seine Begleitung ein. Sie in ähnlichem Alter, schien an seinen Ausführungen wenig interessiert und lenkte ihre antike Dauerwelle von ihm weg zu den Auslagen der anderen Seite. Rein optisch gesehen ergänzten sich beide. Auch sie war im typischen Look älterer Semester gekleidet, mit Faltenrock, Bequemschuhen mit Gummisohle und einer Parka-Jacke. Farblich jedoch war ihr Outfit o.k.. "Guck´ da, auch so ein Klimbim-Laden", sprach er so laut, dass sogar ich es aus einiger Entfernung hören konnte und deutete auf eine feine Boutique mit edler Damen-Kleidung. Spontan überkam mich ein Lachanfall. Dabei ging mir ein Gedanke nicht aus dem Sinn: Wenn er bereits Edel-Boutiquen als Klimbimladen titulierte, wie nannte er dann die sogenannten Billig-Ketten? ...
Zwei Männer, nein, Herren, kamen mir entgegen. Der Kleidung nach zu urteilen, schienen es Geschäftsleute zu sein. Einer trug einen gewaltigen Ordner unterm Arm, während der andere eine edle Aktentasche bei sich hatte. Beide waren in ein anregendes Gespräch vertieft. "Die Leute sind alle bekloppt ..." schallte es im Vorübergehen deutlich an meine Ohren, der Redner schüttelte seine gepflegte Haarpracht. Sein Gesprächspartner grinste zustimmend. Genauso mutete es momentan an ...
Alles in allem ein gelungener Nachmittag und
Frau lernt nie aus!
Schöner Text. Sehr gut geschrieben. Grüße Charles Canary ;-)
AntwortenLöschenhttps://charlesbullauge.blogspot.com